
Nigeria
Der Alptraum jedes Afrikafahrers heißt Nigeria. Ein Land so groß wie Deutschland, Frankreich und Belgien zusammen. Auf der Westroute ist es unmöglich zu umfahren. Will man von Europa nach Südafrika führt kein Weg daran vorbei. Auch für mich ist es der Point of no Return, immer wieder habe ich während meiner Reise daran gedacht vor Nigeria, umzudrehen. Aber daran verschwende ich keinen Gedanken mehr, ich fühle mich mehr als bereit den imaginären Mount Everest meines Trips zu besteigen.
Allein die Beschaffung des Visums für Nigeria ist in Afrika schier unmöglich. Matthias, der Schweizer Motorradfahrer, schafft es nach zwei Wochen in Burkina Faso, nachdem er dort Resident geworden ist und regulär Steuern zahlt. Verrückt. Jetzt ist er allerdings weit hinter mir, aber es gibt noch Dave, den verrückten Australier, der bereits in Lagos auf mich wartet.
Mein Visum habe ich bereits in Deutschland organisiert, es ist das einzige, dass ich nicht in Afrika beantrage.
Von Benin kommend sind es nur 100 Kilometer nach Lagos, aber in Nigeria werden Distanzen nicht in Kilometern bemessen, sondern in Fahrstunden. Die Grenze Benins nach Lagos wird mit 7-12 Stunden angegeben, je nach Verkehr. Für 100 Kilometer! Ich stehe um 5 Uhr auf, stehe um 7 Uhr an der Grenze. Erledige sämtliche Formalitäten und fahre los.
Mein Ziel ist ein kleines Hotel mitten im Zentrum, wo ich Dave treffen will. Lagos ist eines der größten Ballungsgebiete der Welt, 25 Millionen Menschen sollen nach Schätzungen hier leben, auf einem Radius von 80 Kilometern.
Die ersten zehn Kilometer passiere ich fünf Militärcheckpoints, eine nie dagewesene Häufigkeit und so setze ich das Zählen der Straßensperren bis zu Kameruns Grenze, am anderen Ende Nigerias, fort.
Bisher ist noch kein Verkehr zu sehen und ich beginne mich schon zu wundern, ob das alles nur Mythen waren, die ich gehört habe. Plötzlich springen hinter Bäumen am Straßenrand zehn Jugendliche auf die Fahrbahn und schieben Nagelbretter vor meine Reifen. Mein Puls schnellt nach oben, aber es ist nur eine Straßengang. Sie fordern 100$, aber da sie keine Waffen haben, mache ich ihnen klar, jetzt Militär vom letzten Checkpoint zur Hilfe zu holen. Ich bin inzwischen total abgestumpft, speise sie mit zwei Dosen Cola ab und fahre weiter.
Der Verkehr wird zunehmend dichter und dichter und kommt etwa 50 Kilometer vor der Stadt vollständig zum Erliegen. Es ist das komplette Chaos, Stoßstange reiht sich an Stoßstange, teilweise würde ich meine Fahrertür nicht aufbekommen, so dicht stehen die Autos. Menschen klettern über die Motorhauben, dazwischen Motorradtaxis, deren Fahrer ihre Maschinen über Autos hinweg heben. Alle Fahrzeuge stehen Kreuz und Quer, es wird geschrieen, nach zwei Stunden bin ich mit meinen Nerven am Ende, dazu hat es nahezu 40 Grad im Auto.
Links und rechts die Slums von Lagos, hier will ich nicht aussteigen müssen und wie ich später erfahre, ist die Anzahl der bewaffneten Überfälle in diesen Viertel auch tagsüber extrem hoch. Die Autos stecken fest, sind somit gefangen und Banditen hilflos ausgeliefert.
Ich passiere Müllberge, so groß, dass kleine Dörfer auf ihnen errichtet wurden. Hütte reiht sich an Hütte, Kindern wühlen im Müll, es riecht nach verbranntem Plastik und ich sehe den ersten Toten am Straßenrand liegen. Menschen, für die sich keiner interessiert, ohne Familie und Freunde, für die keiner eine Beerdigung zahlt. Menschen am Abgrund einer nicht funktionierenden Gesellschaft, in der jeder Cent überlebenswichtig ist.
Über 200 Millionen Menschen leben in Nigeria und die Regierung hat längst die Kontrolle über viele ihrer Zuständigkeiten verloren. Der Kampf gegen den Terror frisst einen großen Teil ihrer Aufmerksamkeit, die eigentlich an ganz anderen Stellen dringend gebraucht wird.
Aber so wütet im Norden seit Jahren die Boko Haram, im Osten die Fulani-Rebellen und das Niger-Delta versinkt im Chaos räuberischer Banden im Krieg um Öl. Dazu hat der Konflikt im Westen Kameruns das komplette Grenzgebiet beider Ländern destabilisiert. Große Aufgaben für die Regierung, die sich allerdings mit beispielsloser Korruption selbst handlungsunfähig macht.
Ich gucke in den Rückspiegel, mit Sirenen kündigt sich ein Konvoi an. Drei SUVs mit verdunkelten Scheiben wühlen sich durch den Verkehr. An der Front ein Pickup mit Soldaten auf der Ladefläche, drei davon laufen mit Baseballschlägern voran und dreschen auf alle Autos ein, die nicht sofort eine Gasse freimachen. In Nigeria herrscht Anarchie. Für mich eine Welt, die ich zuvor noch nirgends so gesehen habe. Für die restlichen Leute einfach nur Alltag in Lagos.
Nach neun Stunden erreiche ich Victoria Island, eine der vielen Inseln der Stadt, wo ich Dave treffe. Es ist das Viertel der westlichen Welt und solange man es nicht verlässt, könnte man meinen, man befindet in Accra oder Dakar. Hier gibt es alles, was teuer und luxuriös ist. Modernste Hotelketten, exquisite Restaurants, angesagte Nachtklubs.
Abends gehe ich mit Dave etwas trinken, es ist heute der heißeste Club der Stadt. Wir sind hoffnungslos underdressed, aber unsere Hautfarbe gewährt uns Eintritt. Wie immer – traurig, aber Weiße haben in Afrika gefühlt immer Vorrang vor der einheimischen Bevölkerung.
Zufälligerweise tritt hier heute Abend Wizkid, eine der bekanntesten Künstler Afrikas, auf. Und obwohl es Mittwoch ist, ist es brechend voll. Dave und ich staunen nicht schlecht, als wir Ferraris vor der Tür parken sehen. Drinnen werden unter großem Feuerwerk im Minutentakt Champagnerflaschen serviert. Nigerias Oberschicht feiert und wohl nirgendwo auf der Welt leben die Reichen der Reichen und die Armen der Armen so nahe beieinander.
Vor der Tür lange Schlangen vornehmlich weiblicher Gäste. Ich frage mich warum – in Europa ist das sonst eher dem männlichen Geschlecht vorbehalten, ohne Begleitung den Eintritt verweigert zu bekommen. Später erfahre ich, dass es sich allesamt um Prostituierte handelt, die aber um die Gäste zu schützen, nicht eingelassen werden.
Um zwei Uhr habe ich genug gesehen und fahre zurück zum Hotel. Und stehe erstmal eine Stunde im Stau. Mitten in der Nacht, für eine Strecke von drei Kilometern. Einfach nur verrückt.
Als am nächsten Morgen das Verkehrschaos in Lagos aufs Neue ausbricht, sind Dave und ich schon auf der Schnellstraße Richtung Benin City.
Es sind anstrengende Tage. Der Wecker klingelt morgens um 4.30 Uhr, wir brechen in der Morgendämmerung auf und fahren bis zum Einbruch der Dunkelheit. Ohne eine Pause zu machen, schaffen wir jeden Tag 10-11 Stunden. Aufgrund der katastrophalen Straßen sind aber 400 Kilometer am Tag schon ein Meilenstein und Nigeria ist groß. Wir brauchen sechs Tage für die Durchquerung und müssen weit in den Norden dieses wilden Landes ausweichen. Grund dafür ist der Konflikt im Westen Kameruns, der sich zunehmend verschärft und dazu geführt hat, dass Nigeria alle Grenzen zu der Konfliktregion geschlossen hat. Die vornehmlich benutzte Route durch Nigeria ist so für uns nicht fahrbar, aber wir wissen von einer kleinen Grenze weiter nördlich.
Dave und ich sind in Onitsha und teilen uns ein kleines Hotel. Wir sind müde und hungrig und das Hotel liegt am Stadtrand. Weit und breit gibt es nichts zu Essen. Die Leute hier sind ruppig und barsch und obwohl es nichts gefährlicheres gibt, als sich nachts in Nigeria zu bewegen, treibt uns der Hunger Richtung Stadtkern.
Die Stadt wird durch den Niger geteilt, er ist über einen Kilometer breit und die einzige Verbindung in die andere Stadthälfte ist eine einspurige Brücke. Onitsha zählt schlappe 7.5 Millionen Einwohner und besitzt dazu den größten Markt Afrikas. Wir müssen über die Brücke, auf der allerdings gerade ein sogenannter Hold-Up ist. Ein Art Stau, der sich kaum bis gar nicht bewegt. Bis zu 10 Stunden kann es dauern die Brücke zu überqueren. Wir nehmen ein Motorradtaxi, die einzige Möglichkeit auf die andere Seite zu kommen. Zu zweit sitzen wir hinter dem Fahrer, selbstredend ohne Helm. Der Zubringer zur Brücke ist ebenso von dem Hold-Up betroffen und so weicht unser Fahrer wie selbstverständlich in den Gegenverkehr aus. Es ist dunkel und wir fahren als Geisterfahrer über die Autobahn. Mit über 100 Stundenkilometern kommen uns Fahrzeuge entgegen, während wir auf der Innenseite der Fahrbahn, zwischen der Leitplanke des Mittelstreifen und der Autos Richtung Brücke brausen. Es ist wohl das gefährlichste, was ich bisher auf meiner gesamten Reise gemacht habe.
Schließlich halten wir vor einem heruntergekommenen Fast-Food Laden, der von einem Söldner bewacht wird. In der linken Hand hält er eine Shotgun, in der Rechten eine Machete. Er hält uns die Tür auf und das Shawarma schmeckt überraschend gut. Nirgendwo sonst habe ich bisher so viele Waffen gesehen, wie in Nigeria. Nahezu jeder scheint hier bewaffnet.
Die Anspannung ist durchgehend auf einem extrem hohem Level, dazu verbringen wir jeden Tag mindestens 10 Stunden im Auto. Wir essen nur abends und haben eigentlich auch da keinen Hunger.
In den letzten Tagen haben wir uns in nördliche Richtung bewegt und sind der Grenze Kameruns nur noch zwei Tagesreisen entfernt. Die Gegend gilt mit als die gefährlichste in ganz Nigeria.
Wir stehen vor einer Kreuzung und müssen uns entscheiden. Richtung Westen liegt die sogenannte Kidnapping-Road, ein 150 Kilometer langer Straßenabschnitt, auf dem in den letzten Monaten immer wieder Leute entführt wurden. Ausländer, wie auch Einheimische. Auf 15 Millionen Naira, etwa 35.000€ für Ausländer und 1 Millionen Naira, etwa 2.500€ für Einheimische, beliefen sich die Lösegeldforderungen, wie uns ein Soldat erzählt. Wenn man Pech hat, wird man allerdings an Extremisten verkauft – Ausgang ungewiss.
Fahren wir weiter Richtung Norden, bedeuten das 200 Mehrkilometer und wir würden den unteren Rand des Boko Haram Gebietes streifen.
„The danger seems real“, wie Dave feststellt. Wir entscheiden uns für die Kidnapping-Road nachdem uns die nigerianische Armee glaubhaft versichert, sie hätten das Problem gelöst. Was auch immer das heißen mag. In unglaublicher Geschwindigkeit brettern Dave und ich also über die vermeintliche Kidnapping-Road, bremsen nur für die unzähligen Militärcheckpoints, stark befestigt und teilweise sogar in Sichtweite aufgestellt. Hier muss schwer etwas los gewesen sein, aber die Soldaten sind nett und entspannt und bestaunen höchstens das Auto. Touristen sind hier so häufig zu sehen wie ihr Einkommen. Bestenfalls unregelmäßig.
Auch Dave und ich beginnen uns etwas zu entspannen und wittern in einem kleinen Dorf eine Abkürzung. Es geht über eine rostbraune Staubpiste, aber wir sind noch keine 500 Meter weit gekommen, als uns Menschen am Wegrand wild zuwinken und uns mit Motorrädern aus dem Dorf einholen. Auf keinen Fall weiter, zu gefährlich, also wieder umdrehen und auf die Hauptstraße zurück.
Nach einem weiteren Tag werden die Militärposten langsam weniger, genauso wie die Menschen. Auch die Landschaft verändert sich, es wird kühler und grüner. Affen springen vor mir über die Straßen. Wir schrauben uns kleine Bergstraßen nach oben, es ist wunderschön und zum ersten Mal genieße ich Nigeria in vollen Zügen. Es erinnert an Marokko, als wir auf fast 2000 Meter ein Plateau erreichen. Die Leute sind extrem nett, die Gegend ist so abgelegen, hier gibt es keine Rebellen oder sonstige Bösewichte. Wir machen uns auf den Weg die Grenze Kameruns auf einem kleinen off-road Track in den Bergen zu überqueren. Der Pfad ist teilweise extrem ausgesetzt und kann von Autos nicht mehr befahren werden. Zum Glück reite ich eine wilde Bergziege, die nahezu mühelos über alle Felsen springt. Wir passieren kleine Dörfer, Kinder rennen uns schreiend hinterher. Wir dürfen in einem kleinen Dorf campen, die Leute stürzen sich praktisch auf uns. Alle wollen ein Photo mit den zwei Weißen, wir kochen uns Nudeln, um uns herum 40 staunende Kinder. Manche haben in ihrem Leben noch nie einen Weißen gesehen. Erschöpft schlafen wir ein – morgen werden wir die Grenze in den Kamerun überqueren. Nach 161 Checkpoints und 1.600 Kilometer in sechs Tagen.
Nigeria war unglaublich intensiv für mich, in einer noch nie dagewesene Dimension. Es fühlt sich an, als hätte ich zehn verschiedene Versionen des Landes durchquert, so unterschiedlich waren die Leute und Regionen von Tag zu Tag.
Von kantig und harsch in Lagos bis sanftmütig und willkommend in den Bergen im Nordosten.
Eins ist aber überall gleich – es herrscht eine unglaubliche Energie. So viel Bewegung. So viel Leben.
So muss der Wilde Westen damals in Amerika gewesen sein.